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Der Sinn von Entdeckungen
Wir unterscheiden zwischen dem individuellen, dem sozialen und dem kulturellen Sinn des Entdeckens. Am Beispiel von Guttenberg wird deutlich, und das trifft nicht nur auf ihn, sondern auf Kolumbus und andere Entdecker zu, dass der individuelle Sinn des Entdeckens ein anderer sein kann als der soziale Sinn.
Kolumbusstatue im Hafen
von Barcelona
Gibt es wie im Falle von Kolumbus einen Finanzier und Auftraggeber, nämlich das an der Macht befindliche Königshaus, so werden diese Finanziers -wie auch die von anderen Entdeckungen - ihre Interessen zum Maßstab nehmen und den Sinn der Entdeckung aus ihrer Sicht definieren. Natürlich ging es dem spanischen Königshaus um die Ausweitung seiner Macht und um die ökonomische Ausbeutung der neu entdeckten Länder. Kolumbus ging es um den Seeweg nach Indien, das Drama für ihn war, dass die Entdeckung Amerikas für Kolumbus selbst ein Scheitern darstellte, als sich nicht mehr verheimlichen ließ, dass er einen neuen Kontinent und nicht Indien entdeckt hatte. Der individuelle und der soziale Sinn fällt hier in genauso extremer Weise auseinander wie bei Gutenberg, der die schönste Handschrift überbieten wollte, den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, der der Gesellschaft neue Formen der Produktion, Distribution und Konsumtion von Wissen bescherte. Neben diesem sozialen Sinn entwickelte sich durch die weltweite Ausbreitung dieses neuartigen Kommunikationsmediums ein kultureller Sinn für die menschliche Kultur allgemein.
- Gutenbergdarstellung
- und eine Seite aus einer
reich illustrierten Bibel
Entdeckung im Wissenschaftsbereich werden von der jeweiligen Professional Community bewertet. Sie bewertet gerade dann, wenn es sich um eine innovative und revolutionäre Theorie handelt, die Entdeckung oft nicht nach fachlichen Kriterien, sondern nach machtpolitischen. So kann man den sozialen Sinn einer Entdeckung für gefährlich befinden, weil sie gerade vorherrschende Grundannahmen, Modelle und das Selbstverständnis einer Disziplin bedroht, und sie für falsch oder nicht genügend begründet erklären. Oder die Community nimmt nach den für die Wissenschaft geltenden Kriterien der Überprüfung die Innovation begeistert auf und beschäftigt sich damit, welche Auswirkungen diese auf ihre Modelle Grundannahmen Verfahren hat und wie sie angewandt werden kann. Auch dabei kann es zu Differenzen zwischen dem individuellen und dem sozialen Sinn kommen, weil sich herausstellt, dass die Entdeckung auch für ganz andere Bereiche Relevanz hat als für diejenigen, die der Entdecker im Sinn hatte.
Die kulturelle Wirkung einer Entdeckung
Wird eine Entdeckung bekannt, entwickeln sich in den Gesellschaften Bewertungen der Entdeckung und Zuschreibungen von Sinn, den diese Entdeckung für die Gesellschaft oder Teile von ihr haben könnte oder hat. Der kulturelle Sinn einer Entdeckung, also die Annahmen über die Bedeutung der Entdeckung für die Gattung Mensch, kann nach dem Bekanntwerden der Entdeckung noch nicht klar sein klar sein, er wird es erst Jahre oder Jahrhunderte später sein. So ahnte man nicht, dass Gutenbergs Entdeckung der Typografie eine Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologie auslösen würde. Der von Menschen und sozialen Gemeinschaften erhoffte und gewünschte Sinn erfüllt sich oftmals nicht, wie man an den folgenden Beispielen sehen kann.
“ Auffällig ist auch, dass an einige Erfindung große Erwartungen zum Erringen eines Weltfriedens geknüpft wurden. So glaubten viele Menschen im 19. Jahrhundert, dass die unmittelbare Kommunikation mit Telegrafen und später Telefonen über alle räumlichen Grenzen hinweg den Dialog zwischen den Völkern verbessern und so auch automatisch in eine Ära des weltweiten Verstehens und des Friedens führen würde. Stattdessen entwickelte sich der Telegraf rasch zu einem militärstrategisch wichtigen Instrument, zuerst im Krimkrieg (1853-1856), dann im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), während dem 24.000 km Leitungen verlegt wurden, und anschließend im deutsch-französischen Krieg 1870/71. Auch Nicola Tesla dachte an Frieden. Als er seiner Idee von der weltumspannenden Energie nachging, war er davon überzeugt, dass in »die vollkommene Aufhebung der Entfernung von allen Errungenschaften der Menschheit am meisten herbeigesehnt wird und den weltweiten friedlichen Beziehungen am förderlichen wäre«. Und der ohnehin dem Krieg abgeneigte und sozialistischen Ideen nahestehende Otto Lilienthal glaubte, dass Flugzeuge einen Wandel in der kriegerischen Geschichte der Menschheit einleiten könnten: »Die Grenzen der Länder würden ihre Bedeutung verlieren, weil sie sich nicht mehr absperren lassen… Und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als den blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Weltfrieden verschaffen.« Grenzen überwinden heißt Frieden schaffen glaubte man. Im Zeitalter von Interkontinentalraketen und Cyberattacken im Internet sind solche naiven Gleichungen längst passe´.“ (Bührke 2012, S.10-11)
Zu den Entdeckern, die dem individuellen Sinn ihrer Entdeckung auch einen kulturellen Sinn zuschrieben, gehört Alexander von Humboldt:“ Je mehr die Menschenzahl und mit ihr der Preis der Lebensmittel steigen, je mehr die Völker die Last zerrüttete Finanzen fühlen müssen, desto mehr sollte man darauf sinnen, neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel zu eröffnen. Wie viele, unübersehbar viele Kräfte liegen in der Natur ungenutzt, deren Entwicklung tausenden von Menschen Nahrung oder Beschäftigung geben könnte.“ (2010, S. 20) Der Text liest sich erstaunlich modern. Seine Entdeckungsreisen und seine Studien der Botanik sollten helfen, neue Nahrungsquellen aufzuschließen, um dieses durch das enorme Bevölkerungswachstum entstandene Problem, das in heutiger Zeit immer noch besteht, zu lösen.
Die Entdecker haben es nicht in der Hand, die Wirkung ihrer Entdeckung auf die Menschheit festzulegen oder zu beeinflussen. Erklären lässt sich die Differenz zwischen individuellen Sinn für den Entdecker auf der einen und kulturellen Sinn auf der anderen dadurch, dass nichtmenschliche Faktoren der Welt wie die Natur neben konkurrierenden Auslegung des sozialen Sinns eine Rolle spielen.
„Sinn, kultureller =
Die kulturelle Praxis prämiert die Wirkung von nichtmenschlichen Faktoren auf die Menschen. Ihr Zweck, der kulturelle Sinn, ist es Wirkungen nichtmenschlicher Faktoren auf den Menschen zu erzeugen, zu richten und zu gestalten. (...)
Die nichtmenschlichen Faktoren des Kosmos können mehr oder weniger stark von Menschen beeinflußt sein. Sie können auch das Produkt nahezu ausschließlicher menschlicher Praxis sein. Dann kann man von Artefakten sprechen. Das sind alle technischen Geräte, angefangen von einfachsten Werkzeugen bis zu vollautomatischen Maschinen. Zu den Artefakten gehören aber auch soziale Techniken (z.B. Bürokratie) und deren Vergegenständlichung in Institutionen.
Wenn beispielsweise von der 'Buchkultur' gesprochen wird, dann wird sie in der TriPrax als menschliche kulturelle Praxis, als von Menschen mitgestaltetes Ökosystem verstanden. Im Fokus dieser kulturellen Praxis stehen dann aber nicht die Aktivitäten der Menschen und deren Ziele - wie in der individuellen Praxis - oder die sozialen Funktionen für die Sozialsysteme, sondern die Wirkungen, die das komplexe Konglomerat von Büchern, Typographeum, die technischen Abläufe auf die Menschen als (nur) einem Faktor der Kultur haben.
Der unterschiedliche Sinn der drei Praxisklassen
Es gilt die Regel:
Wenn Wirkungen von nichtmenschlichen Faktoren von Praxis(systemen) auf die Menschen im Vordergrund stehen, handelt es sich um kulturelle Praxis, die Menschen emergieren als kulturelle Wesen.
Bei der individuellen und der sozialen Praxis stehen die Wirkungen der Personen und sozialen Wesen auf die Objekte im Vordergrund. Es findet eine Umkehr der Richtung einer Beziehung bzw. Energie statt, wenn wir von der sozialen und individuellen Praxis zur kulturellen übergehen.
Wenn wir den Buchdruck als Erzeugnis von Personen oder sozialen Kollektiven denken, dann denken wir über eine individuelle bzw. soziale Praxis nach. Erst, wenn wir die Richtung umkehren und nach den Wirkungen des Typographeums auf Personen und Gemeinschaften suchen, befinden wir uns in einer kulturellen Praxis.
Relevant werden in der Praxis dann Prozesse, Wirkungen, die von den Artefakten ausgehen und Kompositionen, deren prämierte Komponenten die nichtmenschlichen Teile des Kosmos sind. Diese Teile sind die bestimmende Kraft der Praxis und sie ist auf die Menschen und ihre Gemeinschaften gerichtet."
Link Sinn kultureller
Wandel als Schlüsselbegriff zum Verständnis kulturellen Sinns
"Immer sind die Menschen damit befaßt, die Wandlungen, die diese Teile/Artefakte in der Kultur hervorbringen zu gestalten. Dies geschieht durch die Transformation des Wandels. Deshalb ist die Wandeltriade® der Schlüssel zum Verständnis kultureller Praxis.
Der Sinn der kulturellen Praxis für die kulturellen Wesen ist es, die Wirkung von bestimmten anderen Faktoren zu steigern oder zu vermindern (Reformieren), zu bewahren (Konservieren) oder zuallererst zu erzeugen bzw. zu zerstören (Revolutionieren). Der letztere Fall läuft auf die Zerstörung des kulturellen Ökosystems hinaus. Man schafft mit dem inkriminierten Artefakt - z.B. den Verbrennungsmotoren - zugleich eine kulturelle Praxis ab.
Wenn gesagt wird: Der Buchdruck hat die Kultur der Menschen seit der Renaissance in den meisten Teilen der Erde revolutioniert, dann meint dies, - er hat tiefgreifende Veränderungen bei den Menschen bewirkt und- die Menschen haben diese Wirkungen durch produktive, distributive und konsumtive Praktiken kontinuierlich gesteigert, sie positiv bewertet und bewahrt.
Natürlich müssen, um in diese kulturelle Lage zu gelangen, die Artefakte erzeugt werden. Wird diese Funktion prämiert, gestalten wir eine soziale Praxis, deren Funktion es ist, bestimmte Dinge, Technik zu produzieren. Sie ist in dieser Sicht eine Voraussetzung kultureller Praxis.
Hier sind also die drei Klassen der Praxis miteinander verschränkt.
Wenn man den Sinn von kulturellen Bewegungen oder Beziehungen für die Menschen ermittelt, dann wechselt man schnell in eine soziale Praxis, deren Sinn die Bewertung von kultureller Praxis (als Objekt) ist! das heißt, soziale Praxis kann kulturelle Wirkung zum Objekt machen - was nur wieder die Verschränkung der drei Praxisklassen demonstriert.“
Link zu Wandel als Schlüsselbegriff zum Verständnis kulturellen Sinns
Die Bewertung des kulturellen Sinnes einer Erfindung oder Entdeckung unterliegt wohl aber immer einem Wandel in der Zeit. Es entwickeln sich Mythen, modisch ausgedrückt Erzählungen, über deren Sinn und Nutzen, die den Bedürfnissen der Menschen und Gesellschaften Rechnung tragen. Die Erfindung wird, um mit Sherry Turkle zu sprechen, zur ‚Wunschmaschine‘. Die Autorin hat zu Beginn der achtziger Jahre die Hoffnungen und Wünsche der Menschen, die durch die Verbreitung der Computer ausgelöst wurden und ihn zur Projektionsfläche werden ließen, in ihrem Buch:“ Die Wunschmaschine - Vom Entstehen der Computerkultur“ (1984) analysiert.
Auch der Buchdruck war eine Wunschmaschine, schreibt Michel Giesecke in seinem Buch über die“ Mythen der Buchkultur“. “ Überall in Europa äußerte man die Hoffnung, dass die ‚ars nova imprimendi libros‘ , zur Volksaufklärung beitragen möge, die menschliche Erkenntnis heben, ‚magnus lumen‘, große Erleuchtung bringen werde“ oder „ den kriegerischen Wettkampf zwischen den Völkern zu beenden“, wie Erasmus von Rotterdam hofft, indem man ihn durch einem Wettkampf um Wissen und dessen Verbreitung im neuen Medium ersetzt. (S. 206f.) „Sie erscheint schon den Zeitgenossen als eine Kraft, die soziale Netze schafft, die das Miteinander der Menschen und der größeren sozialen Gruppen verändert. Aber mehr noch: Sie verändert auch die Vorstellung darüber, was für die Menschen informativ ist. Wie wir in den vorigen Abschnitten sahen, verlieren die mittelalterlichen Ideale der Weisheit und Kunstfertigkeit an Bedeutung. Information, die noch etwas gelten will, muss im typografischen Medium niedergelegt werden. Nur so kann eine neue Technologie eine neue Jurisprudenz, eine neue Medizin und eine neue Astronomie entstehen. Und diese neuen Wissenschaften kann sich der bekannte Astronom Johannes Kepler etwa, schon am Ende des 15. Jahrhunderts nur als eine Folge der typografischen Kommunikationstechnologie vorstellen.“ (2002, S.207)