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Es gibt wenig Entdeckerinnen, und noch weniger, die ihre Autobiografie geschrieben haben und damit mein Auswahlkriterium für eine Fallstudie erfüllen. Liegen wie in diesem Fall mehrere Biografien und eine Autobiografie vor, so bemerkt man die Bewertungskriterien der Biografinnen und der Person selbst rasch. Das war ein Glücksfall! Nachdem ich viele Autobiografien von männlichen Entdeckern gefunden hatte, sollte es nun die Analyse der Biografie einer Frau werden. Herausgekommen ist ein Hybrid aus einer Frauenbiografie und der eines Entdeckerpaares, letzteres ein seltenes Phänomen.
Die ersten beiden Abschnitte können Sie gleich lesen und sich entscheiden, ob Sie Interesse an mehr haben und dann das PDF öffnen. Es umfasst Maria Sklodowskas Lebensgeschichte, die gemeinsame Entdeckerkarriere von Marie und Pierre Curie und die darauffolgende alleinige Karriere von Marie Curie, sowie das Wiederauftreten von Entdeckerkarrieren in der nächsten Generation.
Am Ende lesen Sie eine Zusammenfassung der entdeckertypischen Merkmale dieser Karriere und derjenigen, die eher den Besonderheiten der Persönlichkeit von Marie Curie zuzurechnen sind.
Herkunft
Die Eltern entstammen dem niederen polnischen Adel. Ihr Vater war Physik- und Mathematiklehrer, die Mutter leitete ein Mädchenpensionat in Warschau, zeitweise in der Wohnung der Familie. Schon der Großvater väterlicherseits war Direktor eines Gymnasiums, auch der Großvater mütterlicherseits gehörte zum verarmten Landadel. Maria Sklodowska ist das fünfte Kind, sie wird im November 1867 in Warschau geboren.
Kindheit und Jugend 1867-1884
Sie lernt mit vier Jahren lesen, fängt mit sechs Jahren an zu lernen, Mathematik und Physik fällt ihr leicht, ihr Vater gibt ihr Privatunterricht. Obwohl der gesamte Schulunterricht in Russisch stattfindet und eine Atmosphäre von Unterdrückung und Bespitzelung herrscht, nutzt sie alle Lernmöglichkeiten, die die Schule ihr bietet (Seite 11, Marie Curie: Selbstbiographie, Paris 1923, deutsch 1962. Abgekürzt: 11, M.C.).
Ein Auslöser für ihr Interesse an den Naturwissenschaften sind physikalische Apparate, die ihr Vater in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt. Sie kann sich nicht vorstellen, wozu man diese Gegenstände braucht. (Seite 25, Eve Curie, Madame Curie - Eine Biographie 1937, Ausgabe 2021. Abgekürzt: 25, E.C.)
Sie schreibt: „Mein Vater, der in seinen jungen Jahren selbst das Verlangen hatte, wissenschaftlich zu arbeiten, tröstete sich während unserer Trennung (als sie in Paris studierte, KRG) mit der Tatsache, dass meine Arbeit immer erfolgreicher wurden.“ (21, M.C.)
Sie wird im Gegensatz zu ihm diese physikalischen Apparate, die sie emotional besetzt hat, nutzen können und selbst welche erfinden.
1867 stirbt die von ihr geliebte älteste Schwester an Typhus, 1878 die Mutter, die schon lange an Tuberkulose litt, mit 42 Jahren, als sie neun Jahre alt ist. Sie bezeichnet den Tod der Mutter als den „ersten ernsten Kummer und die erste große Verzweiflung“ in ihrem Leben (9). Die Familie ist durch diesen Tod sowohl psychisch als auch ökonomisch in einer schwierigen Situation, da der Vater viel Geld für ihre Behandlung ausgegeben hat, und seinem Vermögen verspekuliert hat und außerdem seine Position als Schulleiter wegen kritischer Äußerungen an der Kontrolle durch die russischen Inspektoren verloren hat. Geldmangel, schlechte Wohnverhältnisse und ein überforderter Vater prägen ihre Kindheit. Diese Schicksalsschläge führen dazu, dass sie früh viel Verantwortung für andere übernimmt.
Trotzdem beendet sie mit 15 Jahren als beste Schülerin das Gymnasium und will Lehrerin werden.
Ihr Vater schickt sie für ein Jahr zur Erholung aufs Land. Sie schreibt nicht darüber, worin diese Erschöpfung besteht und wodurch durch sie ausgelöst wurde (15, M.C.). Bei Verwandten erlebt sie ein unbeschwertes Jahr und gesundet.
Ihr höchstes Ziel bleibt es zu lernen.
„Ich lese keine ernsthaften Bücher, nur harmlose und alberne Romane. So fühle ich mich, trotz des Diploms, dass mir die Würde und Reife einer Person zuspricht, die ihre Studien abgeschlossen hat, unglaublich dumm“ schreibt sie an ihre Freundin Kazia (Seite 16, Peter Ksoll und Fritz Vögtle: Marie Curie 1998. Abgekürzt: 16, K.&V.).
Wegen des chronischen Geldmangels der Familie versucht sie nach ihrer Rückkehr Nachhilfeschüler zu finden und nimmt an Vorlesungen der „Fliegenden Universität“ teil, einer illegalen, von Patrioten gegründeten Organisation, die in Privatwohnungen junge Menschen mit dem Ziel unterrichten, die politischen Probleme Polens durch den „Aufbau eines geistigen Potentials als Triebfeder zur Veränderung“ des Landes zu lösen"(20, M.C.). Die Mitglieder sind aufgefordert, auch anderen Unterricht in polnischer Sprache zu geben.
“Wir dürfen nicht hoffen, eine bessere Welt zu erbauen, ehe nicht die Individuen besser werden. In diesem Sinne soll jeder von uns an seiner eigenen Vervollkommnung arbeiten, indem er auf sich nimmt, was ihm im Lebensganzen der Menschheit an Verantwortlichkeit zukommt und sich seiner Pflicht bewusst bleiben, denen zu helfen, den er am ehesten nützlich sein kann.“ (20, K. und V.)
Diese Werte sprechen für den zweiten Karriereanker "Dienst und Hingabe": Dienst an der Nation und dem Volk (später auch dem Französischen), an Ihrer Familie, an Bedürftigen und später auch Dienst an der Wissenschaft durch die Arbeit an der Entdeckung.
Die Zeit als Gouvernante 1885-1889
Aus Rücksicht auf die beschränkten finanziellen Mittel ihres Vaters nimmt sie mit 17 Jahren die Stelle einer Hauslehrerin auf dem Land an, obwohl sie eigentlich an einer Privatschule in der Hauptstadt unterrichten wollte.
Sie ordnet ihre Interessen denen der Familie unter und finanziert gemeinsam mit dem Vater ihrer Schwester ein Studium der Medizin an der Sorbonne in Paris mit der Aussicht, dass diese später wiederum ihre Studien finanzieren wird, und lebt recht ärmlich.
Frauen haben im Polen keine Chance an einer Universität zu studieren. Sie bleibt auch dann noch in dieser Stellung, als es für sie persönlich unerträglich wird.
Als Gouvernante fühlt sie nicht ausgelastet, sie richtet eine Klasse für Dorfkinder ein, die nicht zur Schule gehen können und unterrichtet sie in ihrer Muttersprache, was gefährlich ist, da Polen unter russischer Herrschaft steht und die polnische Sprache an Schulen verboten ist. Das Motiv für dieses Engagement ist sicher auch in ihrer Mission Polen aufzubauen und Bedürftigen zu helfen zu suchen.
Und sie fasst einen Karriereplan, sie will im Ausland studieren, welches Fach ist ihr allerdings noch nicht klar, sowohl die Literaturwissenschaft wie die Soziologie als auch die Naturwissenschaften interessieren sie wie auch schon ihren Vater. Sie liest alles, was in der Bibliothek zu finden ist, um sich auf ein Studium vorzubereiten. (17f. M.C.)
Später schreibt sie: „Meine einsamen Studien waren reich an Schwierigkeiten. Die wissenschaftliche Bildung, die mir das Gymnasium gegeben hatte, war sehr lückenhaft, weit geringer als die des französischen Baccalaureats. Ich versuchte, sie auf meine Art zu ergänzen, mithilfe von Büchern, die ich auf gut Glück zusammenbrachte. Diese Methode war nicht sehr wirksam, aber ich gewöhnte mich dabei an selbstständiges Arbeiten und erwarb eine ganze Menge von Kenntnissen, die mir später nützlich waren.“ (56f., E. C)
Sie legt sich schließlich auf Mathematik und Physik als Studienfächer fest, wozu sicher die Identifikation mit dem Vater und ihr Talent beigetragen haben (18., M.C.).
Ein Lebensentwurf scheitert: Was sie in ihrer Autobiographie übergeht, ist die Liebe zum ältesten Sohn der Familie, für die sie arbeitet, der schon studiert und sie heiraten will. Beide verbindet ein großes Interesse an den Naturwissenschaften. Sie erfährt eine enorme Demütigung und Kränkung durch die Eltern, ihre Arbeitgeber, „eine Gouvernante heiratet man nicht“, reagiert mit depressiver Verstimmung „ein völliger Mangel an Heiterkeit“ und gar suizidalen Gedanken, zwingt sich aber, noch zwei Jahre unter diesen Verhältnissen zu arbeiten, weil das Geld für das Studium ihrer Schwester gebraucht wird.
Ihrer Freundin schreibt sie: “Menschen, die alles so stark empfinden wie ich und die nicht im Stande sind, diese Veranlagung zu ändern, müssen sie wenigstens so gut als möglich verheimlichen.“ „Ich empfinde alles mit besonderer, geradezu physischer Gewalt, dann aber raffe ich mich auf, die Kraft meiner Natur behält die Oberhand, und ich habe das Gefühl, einen Alpdruck abzuschütteln“ (29-30 Ksol und Vögtle)
Ist sie außerdem hochsensibel? (vgl. die Reaktion auf Nobelpreis, die Amerikareisen mit Ehrungen)
Das trifft auch auf sie zu und schafft immer wieder starke innere Konflikte, weil die Triebkraft zu entdecken mit der Triebkraft, ihrer Familie zugehörig zu sein und ihr zu dienen, kollidiert. Diesen Konflikt scheinen eher die weiblichen als die männlichen Entdecker zu haben.
Hier das PDF zum Runterladen
Die gesamte Fallstudie zu Marie Curie
Fotographie von Marie Curie oben: Fotograv. - Generalstabens Litografiska Anstalt Stockholm - 1911 gemeinfrei