Karrieren und Karriereanker




Entdeckeranker bei bildenden Künstlern

Dieser Anker ist ein Typus des Entdeckerankers. Die Fallstudie zu Picassos ist abgeschlossen. Wenn Sie Interesse haben, schauen Sie sich doch die Studie zu Picassos Künstlerkarriere an.


Der nächste Schritt ist, deren Ergebnisse mit den Ergebnissen der Analyse anderer Künstlerinterviews vergleichen, um das Typische dieses Ankers herauszufinden. Hier dazu erste Abschnitt :

Künstler ist kein Beruf, sondern eine Lebensform

Befasst man sich mit dem Wandel von Karrieren heute, stellt man fest, dass es kaum noch gesellschaftlich vorgegebene Karrierewege und Normalbiografien gibt. So schreibt Martin Kohli, ein Soziologe mit dem Schwerpunkt Biographieforschung schon Anfang der 90er Jahre über die damals noch in der Gesellschaft vorherrschenden Modelle von Erwerbsbiographien und deren Phasen:
„Die angeführten Befunde (seiner Analyse, KRG) sprechen für eine zumindest partielle Auflösung der bisher institutionalisierten Verlaufsmuster des Lebens, mit der Folge der Biographisierung der Lebensführung, d.h. einer Situation, die nach eigenständiger biographischer Orientierung verlangt.“ (Kohli 1994, S.232).

Die Erwerbsarbeit und die um sie herum entstandenen wohlfahrtstaatlichen Steuerungssysteme prägten bisher die Struktur des modernen Lebenslaufs (vgl. ebenda, S. 219). Es entstand eine Dreiteilung in die Phase der Ausbildung, die durch das Bildungssystem geprägt wird, in die Hauptphase der Erwerbsarbeit, die durch die Unternehmen strukturiert wird, und in die Phase des Ruhestandes, die vom Rentensystem geprägt wird. Die mittlere Phase wird zunehmend kürzer aufgrund immer längerer Übergangsphasen, einmal zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit (Arbeitslosigkeit, Praktika, Jobsuche) und zweitens zwischen Erwerbstätigkeit und Rente (Frühverrentungen). Kohli konstatiert, dass sich die institutionalisierten Verlaufsmuster der Erwerbsbiographie, die ‚arbeitsgesellschaftliche Normalbiographie’ mit diesen drei Phasen, immer stärker auflöst, er spricht hier von De-Institutionalisierung, was die Individuen zur Biographisierung des Lebenslaufs zwingt.

„Der historische Prozess der Institutionalisierung des Lebenslaufs umfasst im Wesentlichen drei Aspekte, die zu einer widersprüchlichen Einheit zusammengefasst sind: erstens Kontinuität im Sinn einer verlässlichen, auch materiell gesicherten Lebensspanne; zweitens Sequenzialität im Sinn eines geordneten (auch chronologisch festgelegten) Ablaufs der wesentlichen Lebensereignisse; und drittens Biographizität im Sinn eines Codes von personaler Entwicklung und Emergenz.“ (220).

Die Individuen sind gefordert Kontinuität, Sinnhaftigkeit der Ereignisse und der Abläufe wie auch die darin liegende die Sequenz- und Entfaltungslogik der Biographie selbst konstruieren zu müssen. Eine Last, die zuvor die Gesellschaft durch Institutionalisierung von Erwerbsbiographien den Individuen abgenommen hat. Auch innerhalb der mittleren Phase der Erwerbstätigkeit stellt er immer mehr Brüche und Übergänge fest. Die Erwartung von Loyalität und guter Leistung der Arbeitnehmer gegen Beschäftigungssicherheit und Entlohnung, die ‚moralische Ökonomie’ der Betriebe, die auf Reziprozität setzt, erodiert zunehmend. Dies wird auch unter dem Stichwort der Aufkündigung des ‚old career contract’ diskutiert.

Kohli weist darauf hin, dass nicht alle lernen müssen mit diesem Wandel umzugehen.

Intellektuelle und Künstler unterliegen seit jeher den „Zwang zur Individualität, d.h. der Verpflichtung auf eine radikal subjektive Lebensführung.“ Kohli 233

Ich würde ergänzen, dass man viele, die zur Gruppe der Selbstständigen gehören, auch dazu zählen kann.
Der Bezug auf das Selbst ist sei kein Hedonismus, sondern „eine Form der Suche nach dem letzten Grund für die Orientierung in der Welt“ nach einem wie er sagt “transzendentalen Haltepunkt“.(233-34) Während für die anderen Gruppen diese Suche eine kontinuierliche und nicht endende bleibt, da institutionalisierte Karrierewege und Normalbiografien erodiert sind, haben Künstler m.E. diesen „letzten Grund und Haltepunkt“ recht früh gefunden und halten in der Regel ihr Leben lang daran fest. Sie wollen und müssen Kunst machen, sie wollen Künstler sein. Damit haben Sie im Vergleich zu den vielen anderen eine Gewissheit, die ihrem Leben Kontinuität und Sinn - allerdings keine Sequenzialiät, also einen geregelten Ablauf aufeinanderfolgender Phasen - gibt.

Für Menschen, die nicht den Künstleranker haben, ist es schwer zu verstehen, wieso Kunst zu machen eine existenzielle Notwendigkeit, ein Lebenszweck, „ihr Leben“ ist und sie sich nicht vorstellen können, etwas anderes zu machen. Wieso, wenn sie keine Kunst machen können, ihr Leben „voller Langeweile, Trockenheit und Bitternis“, ohne Lust und Glück und Freude ist, sie sich fühlen, als sei ihnen „eine Lebensader abgeschnitten“.

Künstler ist kein Beruf, den man wählen und wieder abwählen kann, sondern eine Lebens- und Existenzform, die ihrem Leben Sinn und Orientierung gibt und ihre mentale und körperliche Gesundheit erhält.

Ich selbst habe beim Lesen der Biografien und der Interviews zunächst nicht wirklich verstehen können, wieso Künstler auf die Frage was sie antreibt antworten, dass das keine rationale Entscheidung war, sondern dass sie sich für die Kunst entscheiden mussten und die Kunst eine existenzielle Bedeutung für sie hat. Auch meine Empörung über Picassos Satz zu seiner Frau: „Ich verschwende meine (Energie, KRG) auf eine einzige Sache: meine Malerei. Alles andere wird ihr geopfert – du und jeder andere – einschließlich meiner selbst“ (F. Gilot 1980 S. 294). Nun haben Künstler unterschiedliche Persönlichkeiten, und neben dem Künstleranker unterschiedliche Karriereanker, zum Beispiel Lebensstilintegration, und sind nicht so radikal wie der oft völlig unsensibel agierende Picasso. Einen Künstleranker zu haben ist immer ein Problem für die privaten und sozialen Beziehungen der Künstler, denn dieser Karriereanker ist wie alle anderen tyrannisch.

Wenn auch die Künstler durch ihre Entscheidung Kunst zu machen die Sinnfrage ein für alle Mal beantwortet haben, so haben sie doch im Vergleich zu anderen, die durch die gesellschaftlichen Veränderungen mit dieser Aufgabe neu betraut sind, in ihrer Zunft Modelle und Vorbilder, wie man so ein Leben gestalten kann.

Die ihnen zeigen, wie man den „Zwang zu Individualität“ und „die Verpflichtung auf eine radikal subjektive Lebensführung“ (Kohli), die ihnen die gewünschte und für die Produktion von Kunst auch erforderliche Freiheit und Selbstbestimmung geben, aber einem Individuum sehr viel zumutet und auferlegt, wovon sie sonst soziale Normen befreit hätten, produktiv für das künstlerische Schaffen und der eigenen Persönlichkeit und den sozialen Beziehungen zuträglich gestalten kann.

Mit dieser Ablehnung klassischer Karrierepfade und normaler Erwerbsbiografien haben sie strukturell ähnliche Probleme wie Menschen mit einem Entdeckeranker, die sich nicht in Organisationen bewegen mögen oder können und von ihnen natürlich auch abgelehnt werden. Für freie Künstler zeigt sich dieses Problems selbst darin wie sie mit Auftragsarbeiten umgehen, hier ein Zitat aus einem Interview : „Das Eigentliche der Kunst ist das freie Arbeiten, die Selbstbestimmtheit". Schon die Suche nach Mäzenen, nach Institutionen, die sie finanziell unterstützen können, ist für sie schwierig, weil sie sich damit abhängig machen. In den Interviews wird Marketing für die eigenen Kunstwerke als notwendige, meist aber unbeliebte Tätigkeit, für die sie sich zum einen aufgrund ihrer Persönlichkeit weniger eignen, zum anderen, weil sie das professionelle Know-how dafür meist nicht besitzen.

Merkmale des Entdeckerankers bei Künstlern

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tar_06, id279, letzte Änderung: 2025-03-27 07:26:43

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